29.03.2024

Lektor. „Das Mädchen …“. Erzählung von Erika Boos, Berlin/Buenos Aires

 

Die Erzählung „Das Mädchen und der tanzende Baum“ ist Prosa im besten Sinne.

Beobachtetes, Empfundenes, Erdachtes und Gedachtes: Das hat Erika Boos in eine sprachliche Form gebracht, die der großen Literatur nahesteht.

Textprobe

Die Autorin hat Kurzgeschichten geschrieben: Erica Boos.

„Das Gesicht rot angelaufen vor Wut und Verzweiflung, rannte die 10-jährige Rosalinde zur Haustür, öffnete sie brüsk, schaute hinüber zum knorrigen, alten Kirschbaum und stampfte auf den Boden. Niemand hatte diesen Ausbruch bemerkt, und wenn auch: Bestimmt hätte ihn keiner ernst genommen. Sie war ja immer ein so liebes und braves Mädchen. Sie hörte aus dem Wohnzimmer die weinende Mutter, die Abschied nahm von Freunden und Nachbarn. Denn die große Reise ins ferne Land ging los.“

Gefühle

Was sich hier in wenigen Zeilen zeigt, das ist die Fähigkeit der Autorin, dem Leser verschiedenartige Gefühlswelten zu eröffnen. Das Überraschende liegt darin, dass es sich um eine Biografie handelt. Erika Boos hat sich von sich selbst gelöst, die Sprache und die erlebte Geschichte versiert und ruhig in den Mittelpunkt gestellt.

Dann hob sie langsam die Arme, fühlte, wie sie sich dehnten und wie Äste ausbreiteten, und als sie die leichte Last der grünen Nadeln spürte, war sie für den Wind bereit.“

Nicht esoterisch

Ist das nicht wunderschön, den Titel einer Geschichte zu erklären, ohne ins plumpe Esoterische abzudriften?  

Die Autorin hat sofort nach ihrer Geburt in Russland, einem Zwischenaufenthalt in Österreich und ihren 50 Jahren Leben in Buenos Aires zu ihren europäischen Wurzeln zurückgefunden. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin.

Hinter ihr liegt die höchst erfolgreiche Zeit als Malerin. Einige ihrer Arbeiten waren Motive mehrerer Weihnachtskarten von UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Ausstellungen in Argentinien stellten ihr künstlerisches Schaffen in den Mittelpunkt. Doch hat sich die Leidenschaft fürs künstlerische Schreiben ihren Weg gebahnt.

Klare Handschrift

Die Erzählung zeichnet sich durch Detailtreue aus, ohne Texte zu überfrachten, ohne banal zu wirken. Drei Fäden verbinden sich: die Lebenserfahrung, der hohe literarische Anspruch und der Drang, Nähe zu erzeugen, selbst im fernen Argentinien.

Der Text steht in der Tradition des Schreibens zweier Kontinente. Erika Boos erweist sich als Meisterin darin, Stimmungsbilder zu erzeugen, die sich am Rande der Schwermut bewegen können.

Andererseits lässt sich nicht klar differenzieren, ob die leise Sprachmelodie, die unverkennbar ist, die europäische oder die südamerikanische Prägung in sich trägt.

Glücksfall

Texte wie „Das Mädchen und der tanzende Baum“ sind seltene Glücksfälle, die, wie nahe das liegen mag, keineswegs der Illustration bedürfen. Meint man, dass ein Bild mehr als Tausend Worte sagt, stecken die in wenigen kurzen Sätzen. So muss Literatur sein.

Verlage im deutschsprachigen Raum bitte ich sehr herzlich um deren besonderes Interesse an den Werken von Erika Boos. Die Erfüllung des Wunsches ist auch ein Geschenk an den Lektor.